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Schule

 

Während meiner Tätigkeit als Lehrer hatte ich viel Glück. Mein erstes Referendarjahr 1935/36 hatte ich im Prinz-Heinrich-Gymnasium in Berlin-Schöneberg abzuleisten. Dort unterrichtete der mir schon durch mein Studium bekannte Maler und Kunsterzieher Otto Möller, ehemaliges Mitglied der Novembergruppe, ein hervorragender Kenner der Kinderzeichnung und ein ebenso hervorragender Theoretiker des Kunstunterrichts, der lange in dem Berliner Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht als Mitarbeiter tätig war. Er war mein Tutor und trug durch sein großes pädagogisches Können, durch seine vorbildliche Menschlichkeit und Güte viel dazu bei, dass sich in mir in kurzer Zeit Begeisterung für meinen Brotberuf einstellte. Möller verdanke ich fast mein ganzes pädagogisches Können. Außerdem gewann ich bald in ihm einen väterlichen Freund und auch einen künstlerischen Mentor, mit dem ich fruchtbare Gespräche über Kunst und über unsere eigenen Bilder führen konnte.

Eine gründliche Darstellung des Menschen und Malers Otto Möller habe ich in einem Vorwort für dessen Retrospektivausstellung in der Galerie Nierendorf im Jahre 1969 versucht. Dieses Vorwort ist in der Nummer 16 der Kunstblätter der Galerie Nierendorf abgedruckt.

Das Prinz-Heinrich-Gymnasium in der Grunewaldstraße – nur 300 Meter von der Kunstschule Schöneberg entfernt, wo ich studiert hatte – war ein von wenig Kunstsinn zeugender roter Backsteinbau. Wenn dieser bei meinem täglichen Schulweg an der letzten Straßenecke plötzlich vor mir auftauchte, wurde mir jedes Mal übel; wenn ich dann die Haustür und die Windfangtür hinter mir hatte, verstärkte sich dieses hässliche Gefühl, das mit einem gewissen Angstgefühl gekoppelt war. Mir war der Vorgang unverständlich, weil verstandesmäßig kein Grund dafür zu finden war. Nach etwa einem halben Jahr hatte ich mich damit abgefunden. Aber eines Tages, an der schon erwähnten Straßenecke, tauchte in meiner Erinnerung ein anderer Backsteinbau auf, die „Katholische Volksschule für Knaben“ in Neisse, in der ich – ich schilderte es schon – zwei Jahre von einem grausamen Lehrer unterrichtet wurde. Hiernach dauerte es nur noch kurze Zeit, bis ich von dieser störenden Übelkeit befreit war. In meinem Unterbewusstsein hatte sich also eine visuelle Assoziation zu dem Backsteinbau der Neisser Volksschule eingestellt und die Angstgefühle meiner Schulzeit aktiviert, die dann noch beim Betreten des Hauses durch den Geruch des Fußbodenöls, anscheinend dem gleichen wie in der Volksschule, verstärkt wurden.

Die unangenehmen Schulerlebnisse aus meiner Kindheit trugen sicher auch eine Mitschuld daran, dass ich in diesem ersten Ausbildungsjahr gewisse Disziplinschwierigkeiten beim Unterrichten hatte. Als ich mich für den Schuldienst entschloss, hatte ich mir vorgenommen, dass es die Schüler bei mir besser haben sollten als ich bei meinen Lehrern. Ich war deshalb zu den Schülern ausnehmend freundlich. Das ließ sich zunächst gut an. Aber im Laufe der Jahres geriet die Disziplin in einen irreparablen Zustand. Dabei waren die Schüler keineswegs absichtlich destruktiv eingestellt. Sie waren vielmehr zutraulich wie verspielte junge Schäferhunde. Ich war froh, als das Jahr vorbei war und ich in einer anderen Schule einen weiteren Versuch beginnen konnte. Ich stimmte dort meine Freundlichkeit um erheblich Prozente zurück, und siehe da, die Schwierigkeiten waren nur noch unerheblich. Ich hatte den richtigen Ton gefunden. Die Schüler liebten mich trotzdem.

Zur Ableistung meines zweiten Referendarjahres 1936/37 wurde ich an das Real-Gymnasium in Berlin-Pankow versetzt. Ich fand dort wieder einen sehr verständigen und versierten Tutor, den Maler Paul Kuhfuß. Er half mir, in Pankow ein Atelier zu suchen. Wir fanden schließlich eins in der Wolfshagener Straße Nr.82, ganz in der Nähe des Realgymnasiums. In jungen Jahren hatte Kuhfuß dieses Atelier mehrere Jahre selbst bewohnt. Es war als Wohnung ungeeignet, kostete aber nur 20 Mark Miete und war uns deswegen höchst willkommen. Es bestand aus dem Atelier (etwa fünf mal sechs Meter) und zwei winzigen Nebenräumen, einer winzigen Küche und einer winzigen Toilette. Es lag im vieren Stock unter dem Dach. Die Wände und das Dach waren nicht isoliert. Im Sommer war es unerträglich heiß, im Winter reichte ein großer Dauerbrandofen zum Heizen nicht aus. Das Atelier hatte zwei große schräge Fenster, eins nach Norden mit einem Balkon davor und eins nach Süden.

Kuhfuß wurde für mich zum Beispiel und Beweis dafür, dass man als Kunsterzieher sehr wohl auch noch viel malen konnte. Schon Otto Möller hatte mir das erste Beispiel dafür geliefert. Paul Kuhfuß übertraf in dieser Richtung aber alle meine Vorstellungen. Er hatte sogar in einem Raum neben dem Zeichensaal eine Staffelei stehen. Dort roch es immer nach frischer Ölfarbe, genau wie im Atelier seiner Wohnung. In diesem Raum malte er während der Pausen und während seiner Hohlstunden. Dabei rauchte er seine unvermeidliche Zigarre.

Überall folgte ihm eine Wolke von Zigarrenrauch. Für ihn war ein Kunsterzieher, der nicht künstlerisch produktiv war, ganz und gar indiskutabel. Im Nebenraum des Zeichensaals war eine ganze Wand in drei Etagen mit Wechselrahmen bepflastert. Kuhfuß erwartete, dass jeder Referendar wenigsten einmal monatlich Beispiele seiner neuesten künstlerischen Produktionen dort präsentierte.

Sein praktischer Mal- und Zeichenunterricht beschränkte sich auf rein technische Ratschläge und Hilfen. Besonders in den unteren Klassen waren dadurch seine Schüler, die er ansonsten gewähren ließ, regelrechte kleine Maltiere. Überhaupt war Kuhfuß durch und durch Praktiker. Hatte ich bei Otto Müller die innere Disziplin des Kunstunterrichts erlernt, bekam ich nun eingehende Lektionen in der äußeren Disziplin. Ich verdanke auch ihm viel für meine spätere Unterrichtspraxis. Wir blieben bis zu seinem Tode freundschaftlich verbunden.

Paul Kuhfuß hatte die äußere Ordnung im Zeichensaal bis ins kleinste durchorganisiert. Jeder Schüler brachte zum Kunstunterricht eine Zigarrenkiste mit folgendem Inhalt mit: Tuschkasten mit Deckfarbennäpfchen, Haarpinsel, Borstenpinsel, Leinenlappen, schwarze Tusche, Federhalter mit Kugelspitzfeder, Bleistift, Bleistiftanspitzer, Radiergummi. Dieses Werkzeug genügte, um jederzeit vom Malen zum Zeichen und umgekehrt überzugehen, so dass die sonst nötigen Eintragungen in die Aufgabenbücher und andere Erinnerungshilfen vermieden wurden. Die Zeichenblöcke – selbstverständlich nur solche, deren Blätter an drei Rändern perforiert und fest an die stabilisierende Pappe geheftet waren – blieben im Zeichensaal, waren immer unbeschädigt und griffbereit, weil jede Klasse ein gesondertes, abschließbares Schrankfach besaß, in das die Blöcke von Ordnungsschülern eingeschlossen bzw. in der nächsten Stunde wieder herausgeholt und verteilt wurden. Jedem Schüler stand zum Malen ein Einliteraluminiumtopf mit Henkeln zur Verfügung. Diese Töpfe standen in einem großen, flachen Ausgussbecken geordnet in fünf Zehnerreihen, wenn man sie nicht brauchte. Die mit Wasser gefüllten Töpfe wurden in der Pause vor dem Zeichenunterricht von Ordnungsschülern verteilt, genauso wie die Zeichenblöcke. Die Schüler brachten lediglich ihre Zigarrenkiste mit den Werkzeugen mit und die Arbeit konnte sofort beginnen. In der Pause zwischen den Stunden wurden die Töpfe von zwei Schülern wieder mit frischem Wasser gefüllt und Papierschnitzel von den Tischen und vom Fußboden in den Papierkorb befördert. Die wenigen Abfälle, die beim Malen oder Zeichnen anfielen, konnte jeder Schüler auf den Fußboden werfen. Auf diese Weise hatte kein Schüler einen Grund, seinen Platz zu verlassen. Gearbeitet wurde bis zum Pausenzeichen. Die Blöcke blieben auf dem Tisch liegen. Jeder Schüler hatte nur sein Werkzeug einzuräumen und mit der Zigarrenkiste den Raum zu verlassen. Die Ordnungsschüler sammelten die Blöcke ein, noch nasse Blöcke wurden and der Rückwand des Saales auf dem Fußboden abgelegt und nach dem Trocknen von der folgenden Klasse in das entsprechende Schrankfach eingeordnet. Diese peinliche Ordnung bewirkte eine Arbeitsdisziplin, die sich auf die entstehenden Schülerarbeiten fruchtbar auswirkte. Nach einer kurzen unruhigen Phase am Anfang jeder Stunde waren nur noch die üblichen Arbeitsgeräusche zu hören, wozu natürlich auch kleine Unterhaltungen der Schüler gehörten. Pflegliche Behandlung jeder Schülerarbeit war oberstes Gesetz. Vor dem Abtrennen einer Arbeit vom Block besprach Kuhfuß mit dem betreffenden Schüler genau, ob die Arbeit schon fertig war oder nicht. So wurde vermieden, dass auf einem lockeren Blatt weitergearbeitet werden musste. Es gab nur wenige Schüler, die solche Notwendigkeiten nicht einsehen wollten.

Nach 1933 war das Realgymnasium in Berlin-Pankow in Carl-Peters-Schule ungetauft worden, nach dem Kolonialpolitiker und Afrikaforscher, der 1884/1885 Deutsch-Ostafrika in kaiserlichen Besitz gebracht hatte. Diesen neuen Namen hatte Paul Kuhfuß klug und listig ausgenutzt, um in der ganzen Schule Negerkunst auszustellen. Er bekam auch von allen möglichen Seiten afrikanische Masken, Waffen, Kultgegenstände, Werkzeuge, Gefäße aus Privatbesitz geschenkt. Außerdem ließ er sämtliche Korridore besonders von Schülern der unteren Klassen mit Motiven von Urwäldern, Palmenstränden, Negerdörfern, Tierjagden usw. ausmalen. Die Art und Weise, wie hier Gestaltungen von Negern und deutschen Kindern zusammenklangen, war überwältigend. Einwände, die meistens von Erwachsenen erhoben wurden, bei denen die nazistische Kunsttheorien schon gezündet hatten, Einwände, die meist schon Verdächtigungen, wenn nicht sogar schon Anklagen gegen Kuhfuß waren, wurden von ihm mit überlegender und belehrender Eloquenz abgewehrt. Dabei war er von einer sehr bescheidenen und beinahe vorsichtlichen Höflichkeit, so dass es fast niemandem schwer fiel, ihm recht zu geben.

Die Carl-Peters-Schule war durch ihn zu einer regionalen Sehenswürdigkeit geworden. Besichtigungen durch ganze Klassen anderer Schulen waren keine Seltenheit. Denn die Korridore enthielten auch viel Wissenswertes über den schwarzen Kontinent, z.B. Übersichtskarten über Rohstoffvorkommen und Naturprodukte oder über die Bodenbeschaffenheit usw., außerdem Statistiken und geschichtliche Übersichten. Alles war augenfällig und einprägsam dargestellt.

1937, kurz nach meinem Assessorenexamen, bekam ich eine halbe Stelle in Pankow, wenig später konnte ich im Luisenstädtischen Realgymnasium (Nähe Spittelmarkt) eine Planstelle antreten. Ich fand dort ein angenehmes Lehrerkollegium und in Alfred Homeyer einen außerordentlich verständnisvollen Direktor. Er legte, als er gemerkt hatte, wie viel ich neben der Unterrichtstätigkeit malte, meine Unterrichtsstunden auf fünf Wochentage, so dass ich den Montag immer frei hatte. Er begründete das so: Kollegen, die neben ihrer Unterrichtstätigkeit wissenschaftlich produktiv seien, hätten ein Recht auf einen freien Wochentag. Das gleiche Recht habe auch ein Kunsterzieher, wenn er nebenher künstlerisch produktiv sei.

Das war eine große Hilfe für mich. Ich hatte nun in jeder Woche zwei freie Tage, an denen ich von früh bis abends malen konnte. Unterricht ist eine schwere Arbeit, selbst wenn sie dem Lehrer Freude macht. Sie kostet viel Kraft. Ich probierte verschiedene Tageseinteilungen aus, um auch Kraft genug zum Malen zu haben. Z.B. stand ich im Sommer vor Morgengrauen auf, um beim ersten Tageslicht an der Staffelei zu stehen. Aber wenn ich das wochenlang durchgehalten hatte, überfiel mich schon gegen zehn Uhr früh starke Müdigkeit, was sich sehr negativ auf die Qualität meines Unterrichts und die Disziplin der Schüler auswirkte, so dass ich gezwungen war, den Tag wieder anders einzuteilen. Marion, die selbst auch viel malte, nahm mir verständnisvoll alle sonstigen Arbeiten ab. Trotzdem begriff ich, dass es schwer werden könnte, durchzuhalten.

Es gab aber noch andere Schwierigkeiten. Ich hatte, als die ersten Unterrichtsresultate vorlagen, die schönsten Arbeiten der Unterstufe in Korridoren und Klassenzimmern ausgehängt. Etwa drei bis vier Tage später waren viele Rahmen nach dem Muster der Ausstellung „Entartete Kunst“ mit Sprüchen überklebt wie „Judenkunst“, „Demnächst hier Ausstellung Entartete Kunst“ oder „Hier hing ein Bild des deutschen Malers Albrecht Dürer“ usw. Die Urheber vermutete ich in den Schülern der Oberklassen. Ich hatte ja ständig Mitglieder der Hitlerjugend, auch höhere Chargen, vor mir sitzen. Ich ließ die überklebten Rahmen abhängen und im Zeichensaal aufhängen, gab in den nächsten drei Wochen in den Oberklassen nur Kunstbetrachtungsstunden über „primitive“ Kunst und deren Verwandtschaft zu Kinderarbeiten, über die Kunst vor und nach dem Ersten Weltkrieg, insbesondere über Impressionismus und Expressionismus und über Kitsch. Natürlich musste ich dabei auch auf die „Entartete Kunst“ zu sprechen kommen. Die Schüler waren ja gespannt darauf und fragten danach. „Da hing früher mal ein Bild im Treppenhaus, hieß wohl Turm der blauen Pferde. Det war doch wohl entartete Kunst, wa sagte einer. Das war eine willkommene Anregung für mich. Ich holte den sehr schönen, immer noch vorhandenen Piperdruck aus dem Schrank und analysierte im Frage- und Antwortspiel mit den Schülern das Bild. Farbsymbolik, psychische Wirkung der Farben, Goethes Farbenlehre, Zusammenhänge zwischen Farbe und Form, stilbedingte Veränderungen des Erscheinungsbildes der Natur durch den Künstler usw. wurden erörtert. Beispiele, besonders aus der mittelalterlichen Kunst, die in ihrer Farbsymbolik zu dem Marcschen Bild in Beziehung stehen (z.B. zinnoberroter Himmel, blaue und rote Engel) wurden zum Vergleich herangezogen. Am Ende kamen die Schüler selbst zu dem Schluss, dass ein so logisch durchdachtes Bild nicht als Entartung bezeichnet werden könne. Einer fand sogar, dass zum Malen eines solchen Bildes mehr Grips gehöre, als wenn einer von der Natur einfach abpinsele. Ich muss gestehen, dass ich selten so interessierte Schüler wie in diesen drei Wochen gehabt habe. Der von mir beabsichtigte Effekt dieser Kunstbetrachtungsreihe trat auch ein. Ich ließ die gereinigten Rahmen mit den gleichen Kinderarbeiten wieder an den gleichen Stellen aufhängen. Es ist dann nichts mehr passiert.

Dass ich dabei viel Glück hatte, erfuhr ich erst später nach dem Kriege, als ich mit einigen früheren Schülern zusammentraf. Sie sagten mir, dass sie gerade bei diesen Kunstbetrachtungen sehr deutlich gemerkt hätten, dass ich den Nationalsozialismus nicht schätzte. Ich hatte auch kein Abonnement auf irgendein NS-Druckerzeugnis. Jede Woche gingen Fragebogen durch das Lehrerkollegium wie z.B.: Lesen Sie den Völkischen Beobachter? Wenn nein, warum nicht? Und schließlich die Aufforderung, ab sofort ein Abonnement zu bestellen. Ich antwortete immer: Nein, ich halte die Frankfurter Zeitung. Schließlich erweiterten sich die Fragebogen auf Fragen nach NS-Kampforganisationen und sonstigen NS-Verbänden. Meine Fragebogen hatten nichts vorzuweisen. Einige meiner unverdächtigen Kollegen rieten mir, wenigstens in die NSV (Volkswohlfahrt) oder den NSLB (Lehrerbund) einzutreten. Ich tat es schließlich.

In meiner Studienzeit hatte ich mich fast gar nicht um Kunsttheorien gekümmert. Nur im Zusammenhang mit Hans von Marées, den ich eine Zeitlang sehr verehrte, stieß ich zunächst auf eine Broschüre: „Aus der Werkstatt eines Malers“ von Pidoll, einem Maréesschüler, und damit auch auf Conrad Fiedlers Kunsttheorie, zu der ich auch noch die Doktorarbeit des Berliner Malers Hermann Konnerth aufstöberte. Selbstverständlich kam dann noch Adolf von Hildebrandts „Problem der Form“ dazu. Im Kunstgeschichtsseminar hielt ich ein längeres Referat über die Kunsttheorien des Maréeskreises.

Für meine Tätigkeit als Kunsterzieher konnte ich davon nur wenig gebrauchen. Ich stürzte mich jetzt – angeregt durch Möller – auf die „Theorie der bildenden Kunst“ von Gustav Britsch und auf die „Bildnerei der Geisteskranken“ von Hans Prinzhorn. Diese beiden unterscheiden sich ja von Fiedler dadurch, dass ihr Anliegen nicht die hochgestochene Kunst ist, sondern vielmehr die primitivsten Anfänge bildnerischer Gestaltung und deren Gesetzmäßigkeiten. Ich bemühte mich, möglichst viel von der Geschichte des Kunstunterrichts zu erfahren und durchlebte so alle Wege und Irrwege der Kunsterziehung vom Handfertigkeitsunterricht bis zur freien Gestaltung. Ich stand den Arbeiten der Schüler der unteren Klassen des Gymnasiums begeistert und schwärmerisch gegenüber, merkte aber, dass Bücher, die meine Einstellung bestätigten, wie „Der Genius im Kinde“ (Hartlaub) oder „Das schaffende Kind“ (Frank), mir kaum für den praktischen Unterricht weiterhalfen. Ich hatte bei den jüngsten Schülern sowieso keine Schwierigkeiten, sie fürs Malen und Zeichnen zu begeistern. Um die Logik und Folgerichtigkeit kindlicher Gestaltung zu durchschauen, war die nüchterne Theorie von Britsch eine unersetzliche Hilfe. Die wichtigen und praktischen Aufgaben für die 14- bis 19jährigen zu finden, dafür gab es keine Bücherhilfen. Hierzu brauchte ich die sachlichen und praktischen Erfahrungen eines Schulmannes und Tutors. Für die Kunstbetrachtung allerdings gab es Bücherhilfen genug wie z.B. die „kunstgeschichtlichen Grundbegriffe“ Wölffins oder die „Grundzüge der Stilentwicklung“ von Karl Ernst Osthaus. Und doch mussten sie alle für den Kunstunterricht neu durchdacht werden.

 

Die Zeit in der Schule hat mich gezwungen, vieles nachzuholen, was mir die Hochschule nicht mitgegeben hatte, ja was sie damals nicht einmal anzuregen versuchte. Ich begriff auch bald, dass es für den Kunsterzieher nicht genügt, über die Kunst und ihre Geschichte Bescheid zu wissen, sondern dass dieses Wissen erst brauchbar wird, wenn man auch die psychische Entwicklung und die altersbedingten Verhaltensweisen der Kinder und Jugendlichen kennt. Auch dieses während der Referendarzeit einigermaßen nachzuholen war eine Arbeit, die mir oft Unmögliches abverlangte.

Die ersten Jahre meiner Schulpraxis waren eine eindringliche Belehrung darüber, dass meinem Studium etwas sehr Wesentliches gefehlt hatte: der Bezug zur Schulpraxis und die Vorbereitung darauf. Ich betone das ausdrücklich, weil darin der Grund zu suchen ist, dass sich in mir eine bestimmte Vorstellung von den notwendigen Inhalten eines Kunsterzieherstudiums bildete, die ich später als Hochschullehrer zu verwirklichen versucht habe, sehr oft gegen den Widerstand einiger Malerkollegen, die aus der freien Wildbahn kamen und in unschuldiger Ahnungslosigkeit die praktisch-künstlerische Atelierarbeit der Studenten für die einzig wichtige Grundlage für den späteren Beruf hielten. Richtig ist natürlich, dass die künstlerische Durchbildung der Studenten ein unverzichtbarer Teil und der Kern des Kunsterzieherstudiums ist.

In das Ende meiner Referendarzeit fiel auch die Ausstellung „Entartete Kunst“. Ich habe mir diese Ausstellung in Berlin mehrere Male zusammen mit Marion angesehen. Die von den Nazis für Propagandazwecke ausgeschlachtete hohe Besucherzahl war wohl darauf zurückzuführen, dass man so viele Bilder der modernen Kunst kaum auf einmal zu sehen bekommen hatte, schon gar nicht in der Nazizeit. In den ersten Tagen war die Ausstellung so überfüllt, dass wir zunächst draußen Schlange stehen mussten und, endlich hineingekommen, von SA-Männern mit Gewalt durch den vorgeschriebenen Rundgang geschoben wurden. Trotz oder gerade wegen der quer darüber geklebten, dummen und hetzerischen Sprüche, trotz dieser verstümmelnden Darbietung und trotz der dichten Hängung war die Eindringlichkeit der meisten Bilder gewaltiger, als ich sie in Museen je erlebt hatte. Vor dem Kriegsbild von Otto Dix stauten sich die Besuchermassen und waren so ergriffen, dass sie sich von den befehlenden Zurufen der SA-Leute wie „Weitergehen und „Nicht stehen- bleiben!“ nicht bewegen ließen. Der Gegensatz der stillen Betroffenheit der Besucher zu den metallisch geschrieenen Befehlen war eine beredte Erläuterung.

Neben der kleinen Ausgangstür im letzten Raum hing ein kleines Bild von Klee, ein fahrendes Dampfschiff darstellend, das mit Kleescher Freundlichkeit durchs Wasser butterte. Wenn man diesen außerordentlich heiteren Schlusspunkt der Ausstellung erreicht hatte, wurde man unmissverständlich von den SA-Leuten in den Treppenflur des Hinterhauses hinausgedrängt und durfte nicht mehr zurück. Als die Ausstellung fast zu Ende war, kam mir der Gedanke, diesen Klee zu klauen. Ich musste dieses Vorhaben schon beim ersten Versuch aufgeben, weil ich nun erst bemerkte, wie lückenlos die SA-Bewachung aufgebaut war.

Viele, sogar die meisten der Bilder hatte ich schon vorher aus Büchern, Museen und Ausstellungen gekannt. Aber erst jetzt, da sie gewissermaßen am Pranger standen, von geiferndem Hass verschandelt, war ich ihnen eng verbunden, und die angegriffenen Künstler wurden für mich verehrungswürdig. Die Folge war, dass ich mich mit allem, was mir aus den zwanziger Jahren greifbar war, beschäftigte. Ich hatte genug Freunde, in deren Bücherregalen ich Bücher der zwanziger Jahre und vieles anderes finden konnte. Ich glaube, dass ich damals erst den richtigen Anschluss an die zeitgenössische Kunst fand. Ich stellte zum ersten Mal meine Bilder in Frage, hatte das Gefühl, ich müsse mich in meiner Malerei gewaltig ändern. Doch ehe dieses Gefühl sichtbare Konsequenzen zeitigte, begann der quälendste und schmerzlichste Abschnitt meines Lebens. Er zog den endgültigen Schlussstrich unter meine bisherige Malerei.

 

 

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