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Während meiner Tätigkeit als Lehrer
hatte ich viel Glück. Mein erstes Referendarjahr
1935/36 hatte ich im Prinz-Heinrich-Gymnasium in Berlin-Schöneberg
abzuleisten. Dort unterrichtete der mir schon durch mein Studium bekannte
Maler und Kunsterzieher Otto Möller, ehemaliges Mitglied der
Novembergruppe, ein hervorragender Kenner der Kinderzeichnung und ein
ebenso hervorragender Theoretiker des Kunstunterrichts, der lange in dem
Berliner Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht als Mitarbeiter tätig
war. Er war mein Tutor und trug durch sein großes pädagogisches Können,
durch seine vorbildliche Menschlichkeit und Güte viel dazu bei, dass sich
in mir in kurzer Zeit Begeisterung für meinen Brotberuf einstellte. Möller
verdanke ich fast mein ganzes pädagogisches Können. Außerdem gewann ich
bald in ihm einen väterlichen Freund und auch einen künstlerischen Mentor,
mit dem ich fruchtbare Gespräche über Kunst und über unsere eigenen Bilder
führen konnte.
Eine gründliche Darstellung des
Menschen und Malers Otto Möller habe ich in einem Vorwort für dessen
Retrospektivausstellung in der Galerie Nierendorf im Jahre 1969 versucht.
Dieses Vorwort ist in der Nummer 16 der Kunstblätter der Galerie Nierendorf
abgedruckt.
Das Prinz-Heinrich-Gymnasium in der Grunewaldstraße nur 300 Meter von der Kunstschule
Schöneberg entfernt, wo ich studiert hatte war ein von wenig Kunstsinn
zeugender roter Backsteinbau. Wenn dieser bei meinem täglichen Schulweg an
der letzten Straßenecke plötzlich vor mir auftauchte, wurde mir jedes Mal
übel; wenn ich dann die Haustür und die Windfangtür hinter mir hatte,
verstärkte sich dieses hässliche Gefühl, das mit einem gewissen Angstgefühl
gekoppelt war. Mir war der Vorgang unverständlich, weil verstandesmäßig
kein Grund dafür zu finden war. Nach etwa einem halben Jahr hatte ich mich
damit abgefunden. Aber eines Tages, an der schon erwähnten Straßenecke,
tauchte in meiner Erinnerung ein anderer Backsteinbau auf, die Katholische
Volksschule für Knaben in Neisse, in der ich
ich schilderte es schon zwei Jahre von einem grausamen Lehrer
unterrichtet wurde. Hiernach dauerte es nur noch kurze Zeit, bis ich von
dieser störenden Übelkeit befreit war. In meinem Unterbewusstsein hatte
sich also eine visuelle Assoziation zu dem Backsteinbau der Neisser
Volksschule eingestellt und die Angstgefühle meiner Schulzeit aktiviert,
die dann noch beim Betreten des Hauses durch den Geruch des Fußbodenöls,
anscheinend dem gleichen wie in der Volksschule, verstärkt wurden.
Die unangenehmen Schulerlebnisse aus
meiner Kindheit trugen sicher auch eine Mitschuld daran, dass ich in diesem
ersten Ausbildungsjahr gewisse Disziplinschwierigkeiten beim Unterrichten
hatte. Als ich mich für den Schuldienst entschloss, hatte ich mir
vorgenommen, dass es die Schüler bei mir besser haben sollten als ich bei
meinen Lehrern. Ich war deshalb zu den Schülern ausnehmend freundlich. Das
ließ sich zunächst gut an. Aber im Laufe der
Jahres geriet die Disziplin in einen irreparablen Zustand. Dabei waren die
Schüler keineswegs absichtlich destruktiv eingestellt. Sie waren vielmehr
zutraulich wie verspielte junge Schäferhunde. Ich war froh, als das Jahr
vorbei war und ich in einer anderen Schule einen weiteren Versuch beginnen
konnte. Ich stimmte dort meine Freundlichkeit um erheblich
Prozente zurück, und siehe da, die Schwierigkeiten waren nur noch
unerheblich. Ich hatte den richtigen Ton gefunden. Die Schüler liebten mich
trotzdem.
Zur Ableistung meines zweiten Referendarjahres 1936/37 wurde ich an das
Real-Gymnasium in Berlin-Pankow versetzt. Ich fand dort wieder einen sehr
verständigen und versierten Tutor, den Maler Paul Kuhfuß. Er half mir, in
Pankow ein Atelier zu suchen. Wir fanden schließlich eins in der
Wolfshagener Straße Nr.82, ganz in der Nähe des Realgymnasiums. In jungen
Jahren hatte Kuhfuß dieses Atelier mehrere Jahre selbst bewohnt. Es war als
Wohnung ungeeignet, kostete aber nur 20 Mark Miete und war uns deswegen
höchst willkommen. Es bestand aus dem Atelier (etwa fünf
mal sechs Meter) und zwei winzigen Nebenräumen, einer winzigen Küche
und einer winzigen Toilette. Es lag im vieren Stock unter dem Dach. Die
Wände und das Dach waren nicht isoliert. Im Sommer war es unerträglich
heiß, im Winter reichte ein großer Dauerbrandofen zum Heizen nicht aus. Das
Atelier hatte zwei große schräge Fenster, eins nach Norden mit einem Balkon
davor und eins nach Süden.
Kuhfuß wurde für mich zum Beispiel und
Beweis dafür, dass man als Kunsterzieher sehr wohl auch noch viel malen
konnte. Schon Otto Möller hatte mir das erste Beispiel dafür geliefert.
Paul Kuhfuß übertraf in dieser Richtung aber alle meine Vorstellungen. Er
hatte sogar in einem Raum neben dem Zeichensaal eine Staffelei stehen. Dort
roch es immer nach frischer Ölfarbe, genau wie im Atelier seiner Wohnung.
In diesem Raum malte er während der Pausen und während seiner Hohlstunden.
Dabei rauchte er seine unvermeidliche Zigarre.
Überall folgte ihm eine Wolke von
Zigarrenrauch. Für ihn war ein Kunsterzieher, der nicht künstlerisch produktiv
war, ganz und gar indiskutabel. Im Nebenraum des Zeichensaals war eine
ganze Wand in drei Etagen mit Wechselrahmen bepflastert. Kuhfuß erwartete,
dass jeder Referendar wenigsten einmal monatlich Beispiele seiner neuesten
künstlerischen Produktionen dort präsentierte.
Sein praktischer Mal- und
Zeichenunterricht beschränkte sich auf rein technische Ratschläge und
Hilfen. Besonders in den unteren Klassen waren dadurch seine Schüler, die
er ansonsten gewähren ließ, regelrechte kleine Maltiere.
Überhaupt war Kuhfuß durch und durch Praktiker. Hatte ich bei Otto Müller
die innere Disziplin des Kunstunterrichts erlernt, bekam ich nun eingehende
Lektionen in der äußeren Disziplin. Ich verdanke auch ihm viel für meine
spätere Unterrichtspraxis. Wir blieben bis zu seinem Tode freundschaftlich
verbunden.
Paul Kuhfuß hatte die äußere Ordnung
im Zeichensaal bis ins kleinste durchorganisiert. Jeder Schüler brachte zum
Kunstunterricht eine Zigarrenkiste mit folgendem Inhalt mit: Tuschkasten
mit Deckfarbennäpfchen, Haarpinsel, Borstenpinsel, Leinenlappen, schwarze
Tusche, Federhalter mit Kugelspitzfeder, Bleistift, Bleistiftanspitzer,
Radiergummi. Dieses Werkzeug genügte, um jederzeit vom Malen zum Zeichen
und umgekehrt überzugehen, so dass die sonst nötigen Eintragungen in die
Aufgabenbücher und andere Erinnerungshilfen vermieden wurden. Die
Zeichenblöcke selbstverständlich nur solche, deren Blätter an drei
Rändern perforiert und fest an die stabilisierende Pappe geheftet waren
blieben im Zeichensaal, waren immer unbeschädigt und griffbereit, weil jede
Klasse ein gesondertes, abschließbares Schrankfach besaß, in das die Blöcke
von Ordnungsschülern eingeschlossen bzw. in der nächsten Stunde wieder
herausgeholt und verteilt wurden. Jedem Schüler stand zum Malen ein Einliteraluminiumtopf mit Henkeln zur Verfügung. Diese
Töpfe standen in einem großen, flachen Ausgussbecken geordnet in fünf
Zehnerreihen, wenn man sie nicht brauchte. Die mit Wasser gefüllten Töpfe
wurden in der Pause vor dem Zeichenunterricht von Ordnungsschülern
verteilt, genauso wie die Zeichenblöcke. Die Schüler brachten lediglich
ihre Zigarrenkiste mit den Werkzeugen mit und die Arbeit konnte sofort
beginnen. In der Pause zwischen den Stunden wurden die Töpfe von zwei
Schülern wieder mit frischem Wasser gefüllt und Papierschnitzel von den
Tischen und vom Fußboden in den Papierkorb befördert. Die wenigen Abfälle,
die beim Malen oder Zeichnen anfielen, konnte jeder Schüler auf den
Fußboden werfen. Auf diese Weise hatte kein Schüler einen Grund, seinen
Platz zu verlassen. Gearbeitet wurde bis zum Pausenzeichen. Die Blöcke
blieben auf dem Tisch liegen. Jeder Schüler hatte nur sein Werkzeug
einzuräumen und mit der Zigarrenkiste den Raum zu verlassen. Die Ordnungsschüler
sammelten die Blöcke ein, noch nasse Blöcke wurden and der Rückwand des
Saales auf dem Fußboden abgelegt und nach dem Trocknen von der folgenden
Klasse in das entsprechende Schrankfach eingeordnet. Diese peinliche
Ordnung bewirkte eine Arbeitsdisziplin, die sich auf die entstehenden
Schülerarbeiten fruchtbar auswirkte. Nach einer kurzen unruhigen Phase am
Anfang jeder Stunde waren nur noch die üblichen Arbeitsgeräusche zu hören,
wozu natürlich auch kleine Unterhaltungen der Schüler gehörten. Pflegliche
Behandlung jeder Schülerarbeit war oberstes Gesetz. Vor dem Abtrennen einer
Arbeit vom Block besprach Kuhfuß mit dem betreffenden Schüler genau, ob die
Arbeit schon fertig war oder nicht. So wurde vermieden, dass auf einem
lockeren Blatt weitergearbeitet werden musste. Es gab nur wenige Schüler,
die solche Notwendigkeiten nicht einsehen wollten.
Nach 1933 war das Realgymnasium in
Berlin-Pankow in Carl-Peters-Schule ungetauft worden, nach dem
Kolonialpolitiker und Afrikaforscher, der
1884/1885 Deutsch-Ostafrika in kaiserlichen Besitz gebracht hatte. Diesen
neuen Namen hatte Paul Kuhfuß klug und listig ausgenutzt, um in der ganzen
Schule Negerkunst auszustellen. Er bekam auch von allen möglichen Seiten
afrikanische Masken, Waffen, Kultgegenstände, Werkzeuge, Gefäße aus
Privatbesitz geschenkt. Außerdem ließ er sämtliche Korridore besonders von
Schülern der unteren Klassen mit Motiven von Urwäldern, Palmenstränden,
Negerdörfern, Tierjagden usw. ausmalen. Die Art und Weise, wie hier
Gestaltungen von Negern und deutschen Kindern zusammenklangen, war
überwältigend. Einwände, die meistens von Erwachsenen erhoben wurden, bei
denen die nazistische Kunsttheorien schon gezündet hatten, Einwände, die
meist schon Verdächtigungen, wenn nicht sogar schon Anklagen gegen Kuhfuß
waren, wurden von ihm mit überlegender und belehrender Eloquenz abgewehrt.
Dabei war er von einer sehr bescheidenen und beinahe vorsichtlichen
Höflichkeit, so dass es fast niemandem schwer fiel, ihm recht zu geben.
Die Carl-Peters-Schule war durch ihn
zu einer regionalen Sehenswürdigkeit geworden. Besichtigungen durch ganze
Klassen anderer Schulen waren keine Seltenheit. Denn die Korridore
enthielten auch viel Wissenswertes über den schwarzen Kontinent, z.B.
Übersichtskarten über Rohstoffvorkommen und Naturprodukte oder über die
Bodenbeschaffenheit usw., außerdem Statistiken und geschichtliche
Übersichten. Alles war augenfällig und einprägsam dargestellt.
1937, kurz nach meinem Assessorenexamen, bekam ich eine halbe Stelle in
Pankow, wenig später konnte ich im Luisenstädtischen Realgymnasium (Nähe Spittelmarkt) eine Planstelle antreten. Ich fand dort
ein angenehmes Lehrerkollegium und in Alfred Homeyer einen außerordentlich
verständnisvollen Direktor. Er legte, als er gemerkt hatte, wie viel ich
neben der Unterrichtstätigkeit malte, meine Unterrichtsstunden auf fünf
Wochentage, so dass ich den Montag immer frei hatte. Er begründete das so:
Kollegen, die neben ihrer Unterrichtstätigkeit wissenschaftlich produktiv
seien, hätten ein Recht auf einen freien Wochentag. Das gleiche Recht habe
auch ein Kunsterzieher, wenn er nebenher künstlerisch produktiv sei.
Das war eine große Hilfe für mich. Ich
hatte nun in jeder Woche zwei freie Tage, an denen ich von früh bis abends
malen konnte. Unterricht ist eine schwere Arbeit, selbst wenn sie dem
Lehrer Freude macht. Sie kostet viel Kraft. Ich probierte verschiedene
Tageseinteilungen aus, um auch Kraft genug zum Malen zu haben. Z.B. stand
ich im Sommer vor Morgengrauen auf, um beim ersten Tageslicht an der Staffelei
zu stehen. Aber wenn ich das wochenlang durchgehalten hatte, überfiel mich
schon gegen zehn Uhr früh starke Müdigkeit, was sich sehr negativ auf die
Qualität meines Unterrichts und die Disziplin der Schüler auswirkte, so
dass ich gezwungen war, den Tag wieder anders einzuteilen. Marion, die
selbst auch viel malte, nahm mir verständnisvoll alle sonstigen Arbeiten
ab. Trotzdem begriff ich, dass es schwer werden könnte, durchzuhalten.
Es gab aber noch andere
Schwierigkeiten. Ich hatte, als die ersten Unterrichtsresultate vorlagen,
die schönsten Arbeiten der Unterstufe in Korridoren und Klassenzimmern
ausgehängt. Etwa drei bis vier Tage später waren viele Rahmen nach dem
Muster der Ausstellung Entartete Kunst mit Sprüchen überklebt wie
Judenkunst, Demnächst hier Ausstellung Entartete Kunst oder Hier hing
ein Bild des deutschen Malers Albrecht Dürer usw. Die Urheber vermutete
ich in den Schülern der Oberklassen. Ich hatte ja ständig Mitglieder der
Hitlerjugend, auch höhere Chargen, vor mir sitzen. Ich ließ die überklebten
Rahmen abhängen und im Zeichensaal aufhängen, gab in den nächsten drei
Wochen in den Oberklassen nur Kunstbetrachtungsstunden über primitive
Kunst und deren Verwandtschaft zu Kinderarbeiten, über die Kunst vor und
nach dem Ersten Weltkrieg, insbesondere über Impressionismus und
Expressionismus und über Kitsch. Natürlich musste ich dabei auch auf die Entartete
Kunst zu sprechen kommen. Die Schüler waren ja gespannt darauf und fragten
danach. Da hing früher mal ein Bild im Treppenhaus, hieß wohl Turm der
blauen Pferde. Det war doch wohl entartete Kunst,
wa? sagte einer. Das
war eine willkommene Anregung für mich. Ich holte den sehr schönen, immer
noch vorhandenen Piperdruck aus dem Schrank und analysierte im Frage- und
Antwortspiel mit den Schülern das Bild. Farbsymbolik, psychische Wirkung
der Farben, Goethes Farbenlehre, Zusammenhänge zwischen Farbe und Form,
stilbedingte Veränderungen des Erscheinungsbildes der Natur durch den
Künstler usw. wurden erörtert. Beispiele, besonders aus der
mittelalterlichen Kunst, die in ihrer Farbsymbolik zu dem Marcschen Bild in Beziehung stehen (z.B. zinnoberroter
Himmel, blaue und rote Engel) wurden zum Vergleich herangezogen. Am Ende
kamen die Schüler selbst zu dem Schluss, dass ein so logisch durchdachtes
Bild nicht als Entartung bezeichnet werden könne. Einer fand sogar, dass
zum Malen eines solchen Bildes mehr Grips gehöre,
als wenn einer von der Natur einfach abpinsele.
Ich muss gestehen, dass ich selten so interessierte Schüler wie in diesen
drei Wochen gehabt habe. Der von mir beabsichtigte Effekt dieser
Kunstbetrachtungsreihe trat auch ein. Ich ließ die gereinigten Rahmen mit
den gleichen Kinderarbeiten wieder an den gleichen Stellen aufhängen. Es
ist dann nichts mehr passiert.
Dass ich dabei viel Glück hatte,
erfuhr ich erst später nach dem Kriege, als ich mit einigen früheren
Schülern zusammentraf. Sie sagten mir, dass sie gerade bei diesen
Kunstbetrachtungen sehr deutlich gemerkt hätten, dass ich den
Nationalsozialismus nicht schätzte. Ich hatte auch kein Abonnement auf
irgendein NS-Druckerzeugnis. Jede Woche gingen Fragebogen durch das
Lehrerkollegium wie z.B.: Lesen Sie den Völkischen Beobachter? Wenn nein,
warum nicht? Und schließlich die Aufforderung, ab sofort ein Abonnement zu
bestellen. Ich antwortete immer: Nein, ich halte die Frankfurter Zeitung.
Schließlich erweiterten sich die Fragebogen auf Fragen nach
NS-Kampforganisationen und sonstigen NS-Verbänden. Meine Fragebogen hatten
nichts vorzuweisen. Einige meiner unverdächtigen Kollegen rieten mir,
wenigstens in die NSV (Volkswohlfahrt) oder den NSLB (Lehrerbund)
einzutreten. Ich tat es schließlich.
In meiner Studienzeit hatte ich mich
fast gar nicht um Kunsttheorien gekümmert. Nur im Zusammenhang mit Hans von
Marées, den ich eine Zeitlang sehr verehrte, stieß ich zunächst auf eine
Broschüre: Aus der Werkstatt eines Malers von Pidoll,
einem Maréesschüler, und damit auch auf Conrad
Fiedlers Kunsttheorie, zu der ich auch noch die Doktorarbeit des Berliner
Malers Hermann Konnerth aufstöberte.
Selbstverständlich kam dann noch Adolf von Hildebrandts Problem der Form
dazu. Im Kunstgeschichtsseminar hielt ich ein längeres Referat über die
Kunsttheorien des Maréeskreises.
Für meine Tätigkeit als Kunsterzieher
konnte ich davon nur wenig gebrauchen. Ich stürzte mich jetzt angeregt
durch Möller auf die Theorie der bildenden Kunst von Gustav Britsch und auf die Bildnerei der Geisteskranken von
Hans Prinzhorn. Diese beiden unterscheiden sich ja von Fiedler dadurch,
dass ihr Anliegen nicht die hochgestochene Kunst ist, sondern vielmehr die
primitivsten Anfänge bildnerischer Gestaltung und deren Gesetzmäßigkeiten.
Ich bemühte mich, möglichst viel von der Geschichte des Kunstunterrichts zu
erfahren und durchlebte so alle Wege und Irrwege der Kunsterziehung vom
Handfertigkeitsunterricht bis zur freien Gestaltung. Ich stand den Arbeiten
der Schüler der unteren Klassen des Gymnasiums begeistert und schwärmerisch
gegenüber, merkte aber, dass Bücher, die meine Einstellung bestätigten, wie
Der Genius im Kinde (Hartlaub) oder Das schaffende Kind (Frank), mir
kaum für den praktischen Unterricht weiterhalfen. Ich hatte bei den
jüngsten Schülern sowieso keine Schwierigkeiten, sie fürs Malen und
Zeichnen zu begeistern. Um die Logik und Folgerichtigkeit kindlicher
Gestaltung zu durchschauen, war die nüchterne Theorie von Britsch eine unersetzliche Hilfe. Die wichtigen und
praktischen Aufgaben für die 14- bis 19jährigen zu finden, dafür gab es
keine Bücherhilfen. Hierzu brauchte ich die sachlichen und praktischen
Erfahrungen eines Schulmannes und Tutors. Für die Kunstbetrachtung
allerdings gab es Bücherhilfen genug wie z.B. die kunstgeschichtlichen
Grundbegriffe Wölffins oder die Grundzüge der
Stilentwicklung von Karl Ernst Osthaus. Und doch mussten sie alle für den
Kunstunterricht neu durchdacht werden.
Die Zeit in der Schule hat mich
gezwungen, vieles nachzuholen, was mir die Hochschule nicht mitgegeben
hatte, ja was sie damals nicht einmal anzuregen versuchte. Ich begriff auch
bald, dass es für den Kunsterzieher nicht genügt, über die Kunst und ihre
Geschichte Bescheid zu wissen, sondern dass dieses Wissen erst brauchbar
wird, wenn man auch die psychische Entwicklung und die altersbedingten
Verhaltensweisen der Kinder und Jugendlichen kennt. Auch dieses während der
Referendarzeit einigermaßen nachzuholen war eine
Arbeit, die mir oft Unmögliches abverlangte.
Die ersten Jahre meiner Schulpraxis
waren eine eindringliche Belehrung darüber, dass meinem Studium etwas sehr
Wesentliches gefehlt hatte: der Bezug zur Schulpraxis und die Vorbereitung
darauf. Ich betone das ausdrücklich, weil darin der Grund zu suchen ist,
dass sich in mir eine bestimmte Vorstellung von den notwendigen Inhalten
eines Kunsterzieherstudiums bildete, die ich später als Hochschullehrer zu
verwirklichen versucht habe, sehr oft gegen den Widerstand einiger
Malerkollegen, die aus der freien Wildbahn kamen und in unschuldiger
Ahnungslosigkeit die praktisch-künstlerische Atelierarbeit der Studenten
für die einzig wichtige Grundlage für den späteren Beruf hielten. Richtig
ist natürlich, dass die künstlerische Durchbildung der Studenten ein
unverzichtbarer Teil und der Kern des Kunsterzieherstudiums ist.
In das Ende meiner Referendarzeit
fiel auch die Ausstellung Entartete Kunst. Ich habe mir diese Ausstellung
in Berlin mehrere Male zusammen mit Marion angesehen. Die von den Nazis für
Propagandazwecke ausgeschlachtete hohe Besucherzahl war wohl darauf
zurückzuführen, dass man so viele Bilder der modernen Kunst kaum auf einmal
zu sehen bekommen hatte, schon gar nicht in der Nazizeit. In den ersten
Tagen war die Ausstellung so überfüllt, dass wir zunächst draußen Schlange
stehen mussten und, endlich hineingekommen, von SA-Männern mit Gewalt durch
den vorgeschriebenen Rundgang geschoben wurden. Trotz oder gerade wegen der
quer darüber geklebten, dummen und hetzerischen Sprüche, trotz dieser
verstümmelnden Darbietung und trotz der dichten Hängung war die
Eindringlichkeit der meisten Bilder gewaltiger, als ich sie in Museen je
erlebt hatte. Vor dem Kriegsbild von Otto Dix stauten sich die
Besuchermassen und waren so ergriffen, dass sie sich von den befehlenden
Zurufen der SA-Leute wie Weitergehen! und Nicht
stehen- bleiben! nicht bewegen ließen. Der Gegensatz der stillen
Betroffenheit der Besucher zu den metallisch geschrieenen
Befehlen war eine beredte Erläuterung.
Neben der kleinen Ausgangstür im
letzten Raum hing ein kleines Bild von Klee, ein fahrendes Dampfschiff
darstellend, das mit Kleescher Freundlichkeit durchs Wasser butterte. Wenn
man diesen außerordentlich heiteren Schlusspunkt der Ausstellung erreicht
hatte, wurde man unmissverständlich von den SA-Leuten in den Treppenflur
des Hinterhauses hinausgedrängt und durfte nicht mehr zurück. Als die
Ausstellung fast zu Ende war, kam mir der Gedanke, diesen Klee zu klauen.
Ich musste dieses Vorhaben schon beim ersten Versuch aufgeben, weil ich nun
erst bemerkte, wie lückenlos die SA-Bewachung aufgebaut war.
Viele, sogar die meisten der Bilder
hatte ich schon vorher aus Büchern, Museen und Ausstellungen gekannt. Aber
erst jetzt, da sie gewissermaßen am Pranger standen, von geiferndem Hass
verschandelt, war ich ihnen eng verbunden, und die angegriffenen Künstler
wurden für mich verehrungswürdig. Die Folge war, dass ich mich mit allem,
was mir aus den zwanziger Jahren greifbar war, beschäftigte. Ich hatte
genug Freunde, in deren Bücherregalen ich Bücher der zwanziger Jahre und
vieles anderes finden konnte. Ich glaube, dass ich damals erst den
richtigen Anschluss an die zeitgenössische Kunst fand. Ich stellte zum
ersten Mal meine Bilder in Frage, hatte das Gefühl, ich müsse mich in
meiner Malerei gewaltig ändern. Doch ehe dieses Gefühl sichtbare
Konsequenzen zeitigte, begann der quälendste und schmerzlichste Abschnitt
meines Lebens. Er zog den endgültigen Schlussstrich unter meine bisherige
Malerei.
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