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Kunst

Schon in dem kleinen Skizzenbuch, das ich im letzten Jahr der Gefangenschaft aus zufällig gefundenen Papieren zusammengebastelt hatte und in dem nur unbedeutende Zeichnungen enthalten sind, sind einige Blätter zu finden, die meinem früheren so selbstverständlichen, unproblematischen Verhältnis zur sichtbaren Natur widersprachen. Jetzt, wo ich  wieder über normale Arbeitsbedingungen, ein Atelier und hinreichend Farben und Material verfügte, wurde die in mir vorgegangene Veränderung in jedem Bild sichtbar. Ich fing an, den Gegenstand zu zerstückeln und in verschiedenen Aspekten darzustellen. Der Raum, in dem die Dinge stehen, wurde zugunsten der Fläche zurückgedrängt. Jede Scheinwirklichkeit wurde verbannt. Die Realität des Bildes wurde mir wichtig. Auch die menschliche Figur, die mich immer sehr interessiert hat, wurde zerlegt und schließlich nur noch geometrisch-symbolhaft dargestellt. Sie verfestigte sich schließlich im Zeichenhaften. Die sichtbare Natur war mir verdächtig geworden.

 

Eine seit 1955 auftretende Wendung zum Malerischen, die schließlich in Bildern kulminierte, die nur noch aus Farbflecken bestanden, ja sogar tachistisch wirkten, bahnte eine Entwicklung von Bildern an, die nur noch von schriftzeichenartigen Pinselzügen und sehr zurückhaltenden Farben lebten.

 

Es bleibt eine offene Frage, ob ich die Anregungen für meine Malerei allein aus dieser Inselwelt beziehe. Wahrscheinlicher ist, dass mich auch die Großstadt Berlin anregt, in der ich ja einen großen Teil meines Lebens verbringe. Der Gegensatz zwischen beiden und der Dualismus, hat gesagt: die Schizophrenie, derzufolge ich gerne in einem primitiven Dorf leben möchte, aber auch nicht auf das Leben der Großstadt Berlin verzichten kann, sind wahrscheinlich das fruchtbare Moment, dem ich meine Bilder verdanke.

 

Bis 1953 hatte sich ein ziemlicher Berg von ausrangierten Arbeiten angesammelt, die ich meinem Urteil zufolge niemandem zeigen konnte. Bei einigen stimmte die Komposition nicht, bei anderen war der Fluss der Ablesbarkeit zu holprig. Diese Arbeiten schnitt ich auseinander und fügte Teile anders zusammen. Der sehr lebendige Vorgang des Hin- und Herschiebens faszinierte mich. Die Schnelligkeit, mit der ich ein brauchbares, aber immer noch mühelos korrigierbares Resultat erzielen konnte, war verblüffend.

 

Schließlich entstanden auch Collagen, die unabhängig von früheren Arbeiten waren und nur aus aufgeklebten Papieren bestanden, in die ich noch hineinzeichnete. Die Unabhängigkeit, die ich dabei erlangte, kulminierte in sehr malerischen, skizzenbuchgroßen Collagen, die ich 1957 bei einem Kurzaufenthalt in Bad Orb in meinem kleinen gemieteten Zimmer machte.

 

In den folgenden Jahren (1958-1963) entstand keine einzige Collage mehr. Die Collagen hatten mich zu etwas Neuem und Anderem, auf jeden Fall in eine abstrakt malerische Phase geführt, von der ich schon weiter oben berichtete. Die Collage hatte also einen neuen Abschnitt meiner Arbeit eingeleitet, und ich brauchte sie offenbar nicht mehr. Sie bot sich aber sofort wieder an, als im Herbst 1964 jener Zufall eintrat, der schon angedeutet wurde.

 

Ich hatte mehrere Jahre keine illustrierten Zeitungen angesehen. Sie hatten mich aus irgendeinem Grunde, den ich nicht mehr bezeichnen kann, abgestoßen. Im Wartezimmer meines Zahnarztes, während einer unverhältnismäßig langen Wartezeit, griff ich doch zu den Stößen von Illustrierten, die da herumlagen, um mir die Zeit zu vertreiben. Und siehe da, ich war sofort sehr interessiert, nahezu gefesselt, so dass ich beinahe ärgerlich, als ich endlich in das Behandlungszimmer gerufen wurde.

 

Zunächst war ich erstaunt über die Güte des Druckes und der Wiedergabe der Fotos, auch über die oft große Qualität der Fotos. Da hatte sich also viel geändert. Aber nach einigen Minuten drängte sich mir ein Bild vom Menschen auf, das ich bisher mit solcher Deutlichkeit nie bemerkt hatte. Ich wusste aber nicht, wie ich es benennen oder charakterisieren sollte. Die Vielfalt menschlichen Ausdrucks, menschlicher Leidenschaften, menschlicher Aktivitäten, menschlicher Eitelkeiten, menschlicher Schwäche und Stärke, die vielen Menschengestalten, schön und hässlich, arm und reich, lustig und traurig, normal und verrückt, angezogen und nackt, krank und gesund, tätig und faul, aufgedonnert und zerlumpt, und immer wieder die vielen in den Blickpunkt gerückten menschlichen Gliedmaßen - die Hände, die Füße, die Beine, die Hinterteile, die Köpfe, die Gesichter -, die besonders in den bebilderten Reklameseiten für Badeanzüge und Unterwäsche und Strümpfe als Einzelheit sich mir aufdrängten, - dies alles stand als verwirrender, kunterbunter Haufen vor mir, ein bewegtes, kaleidoskopartiges Krabbelgebilde, ein emsiger Ameisen- oder Insektenhaufen, ein beunruhigendes, rätselhaftes Gebilde aus Menschenteilen, ein Menschenknäuel, ein Menschenknoten, in dem es gleichgültig war, zu wem die einzelne Hand, der einzelne Busen oder das einzelne Gesicht gehörte, ein durcheinander gequirltes Sammelsurium von Gliedmaßen, Kleidern, Dessous, Werkzeugen, Accessoires usw. Am beunruhigendsten waren mir die vielen Hände, Beine, Arme in dieser Vision.

 

Da in meinen Arbeiten 1963 die menschliche Figur wieder aufgetaucht war und mich beunruhigt hatte, lag es sehr nahe, den Impuls dieses Erlebnisses aufzugreifen. Ich fing an, menschliche Gliedmaßen aus Illustrierten auszuschneiden.

 

Ich fing an, eine kleine Collage in ein über zwei Meter hohes Bild zu übertragen. Es entstand die „Nereide Cres" (Abb. 9,10). Durch die Vergrößerung zwang ich mich dazu, die ursprüngliche Konzeption zu verändern, denn kleine Entwürfe lassen sich nie pedantisch genau in ein großes Bild übertragen, zumal wenn der Entwurf nur zeichnerisch oder, wie in diesem Falle, ohne Farbe erfolgte. Dieses Bild zu malen war für mich aufregend und erfrischend. Es kam auch zu einem guten Ende und bestätigte mir, dass ich einen gangbaren Weg eingeschlagen hatte, meine Bildvorstellungen zu realisieren. Die Farbigkeit der „Nereide Cres" entsprach der Farbigkeit eines vor der Natur gemalten Aktes. Es handelt sich also um ein vorgestelltes Sehbild.

 

Die Tatsache, dass ich nun beim Malen von den Collagen abhängig war, beunruhigte mich. Ich fing daher an, im Sinne dieser Collagen zu zeichnen und zu malen. Das war zunächst nicht ganz einfach, weil ich mir nicht klar war über die Möglichkeit, Zeichnungen und Bilder im Sinne von Collagen zu machen. Selbst wenn ich einen Arm oder eine Hand oder einen Kopf irgendwohin auf das Papier zeichnete, ohne mir eine ganze Figur vorzustellen, rutschte ich immer mit dem Fortschreiten der Zeichnung in die Nähe der Natur, und wenn ich dann in diese nunmehr "falsch" oder anders als in der Natur zusammengesetzten Gliedmaßenknoten oder Verschlingungen noch naturalistische Farbe brachte, war das Resultat unbefriedigend. Solche Bilder sind der "Gaukler“, "Halbakt" und "Aeolus". Im Bild "Schlafende Venus" kam ich während meiner Arbeit beim dauernden Übermalen und Ändern der Gliedmaßenfarbe schließlich bis zum Weiß (Abb. 11). Das wirkte sofort überzeugender. Warum? Die Größe der Gliedmaßen und des Kopfes hielten sich in diesem Bild stark an die Proportionen des menschlichen Körpers. Die Zusammensetzung der Gliedmaßen entsprach aber keineswegs der Natur. Erhielten die Gliedmaßen nun noch zusätzlich eine naturalistische, dem Sehbild entnommene Farbe, war der Zwiespalt in der Gesamtkonzeption eklatant, weil das Bild naturalistische und anaturalistische Elemente enthielt. Was bei der "Nereide Cres" noch möglich war - in ihr wiesen die Gliedmaßen sehr starke Größenunterschiede auf, also ein anaturalistisches Element mehr -, ging bei der "Schlafenden Venus" nicht. Durch das unsinnliche anaturalistische Weiß, auf das ich experimentierend, probierend gekommen war, kam das Bild näher an eine anaturalistische Einheit heran, wenn auch nicht ganz. Das war für mich eine wichtige Erkenntnis, die mich wenig später auf rein weiße Gliedmaßen kommen ließ.

 

Als schließlich die ersten Collagen vor mir lagen, war deutlich zu merken, dass die Gliedmaßengebilde keineswegs mehr menschliche Gebilde zu nennen waren, dass sie aber etwas über den Menschen in einer geheimnisvollen, rätselhaften Weise aussagten. Manchmal erinnerten sie auch an fernöstliche Figuren mit vielen Armen und Beinen, die dort natürlich eine ganz andere Bedeutung haben und anderes aussagen. Diese Collagen waren in der Farbe sehr zurückhaltend, weil ich ausschließlich Schwarz-Weiß-Fotos ausgeschnitten hatte.

 

Die Frage, ob ich die Zahl dieser Arbeiten noch vermehren sollte oder ob ich versuchen sollte, nun Bilder im Sinne dieser Collagen zu malen, war fällig. Mein Freund Gerhard Fietz sprach diese Frage sofort aus, als ich ihm die Collagen eines Tages zeigte.

 

Ich versuchte dann im Sinne dieser Collagen Bilder zu malen und Zeichnungen zu machen. In ihnen verbanden sich die Gliederknoten wie selbstverständlich mit den Seherlebnissen auf Cres. Ich habe wohl nie in meinem Leben so interessiert und gespannt gearbeitet wie damals. Heute bin ich fest davon überzeugt, dass ich in diesem Jahr das gefunden habe, wonach ich seit meiner Rückkehr aus der Gefangenschaft mit einem etwas unbestimmten Bewusstsein gesucht hatte. Alles, was ich in meiner künstlerischen Tätigkeit lernen konnte, das Portrait, die Figur, das Stillleben, die Landschaft und die arbeitenden Menschen, aber auch die bisher gemachten Malerfahrungen und scheinbaren Irrwege meiner Arbeit - das alles schien sich in meiner Vorstellung zu einer neuen Gestalt zusammenzufinden, die die Sichtbarkeit der Dinge einbezog, aber ihr auch widersprach, - die das ländliche Idyll spiegelte, aber gleichzeitig dessen Zerstörung durch das Eindringen der Zivilisation sichtbar machte, - die die Allgegenwärtigkeit des Menschen in unserer hektischen Zeit, aber auch seine Zerrissenheit und seine Unvollkommenheit zeigte, - die meine Liebe zu allem, was sichtbar ist, belegte, gleichzeitig aber auch mein unbestimmtes Gefühl ablesbar machte, dass nichts mehr in Ordnung sei, - eine Gestalt, die nicht realistisch, eher arealistisch genannt werden konnte, die im Dreieck Realität, Vorstellung und Phantasie angesiedelt war, die sich zwischen Liebe zur Natur, Sorge um deren Weiterbestehen und verhaltener Zivilisationskritik bewegte. Außerdem schien sie mir eine Freiheit in der Gestaltung zu öffnen, wie sie mir vorher nicht vorstellbar war.

 

Seitdem ich das Weiß als Farbe für die menschlichen Gliedmaßen gefunden hatte, veränderte sich noch ein anderes Element in meinen Bildern: das Plastische. Bisher hatte ich die Plastik dadurch erreicht, dass ich die aus der Natur entnommene Lokalfarbe jedes Gegenstandes durch Dunkeln stufte. In der "Schlafenden Venus“ blieb die gestufte Lokalfarbe noch stehen, obgleich ich die hellen Partien der Lokalfarbe durch Weiß ersetzt hatte. Auch in einigen folgenden Bildern behielt ich dies bei. Erst ein Jahr später benutzte ich zur Modellierung Graustufen. Ich versuchte auch, in einem Bild den Gliedmaßen verschiedene Lokalfarben zu geben. Auch dies schien mir ein gangbarer Weg, das Bild zu einem einheitlichen Abstraktionsgrad zu bringen, d.h. allen Teilen des Bildes zu einem gleichen Abstand zur Natur zu verhelfen. Mit anderen Worten: Ich war der Gefangene der klassischen Auffassung von Kunst, die eine Einheitlichkeit in der Gestaltung aller Teile des Kunstwerkes verlangt. Trotzdem stellte ich mir immer wieder die Frage, ob es nicht möglich sei, diese Auffassung zu durchbrechen. Mir schwebte eine andere, freiere, ungebundenere Auffassung vor. Warum sollte es unmöglich sein, durch eine vollständige, aber vollkommene Uneinheitlichkeit zu einer neuen Vollkommenheit, zu einer neuen Einheit zu gelangen? Einen Schritt zur Lösung dieses Problems machte ich 1973, ohne es zu beabsichtigen. Und wieder half die Collage.

 

Noch einmal zurück zu meiner neuen Figuration, zu der von meinem Erlebnis im Zahnarztvorzimmer inspirierten Kunstfigur, zu meinen Glieder- oder Gliedmaßenknoten oder wie man dies auch immer nennen mag. Ich berichtete schon, dass die von den Illustrierten hervorgerufene Vision eines makabren Menschenbildes in mir gewissermaßen eine Gegenvision, eine Komplementärvision erzeugte: meine Erlebnisse auf der Insel Cres, allgemeiner gesagt: die wenn auch nicht heile so doch noch einfache, klare und ruhige Welt von Cres. Diese Welt hatte seit 1955 starke Einflüsse auf mich gehabt, sie hatte mich und meine Malerei umgekrempelt und nun auch den einschneidenden Umbruch von 1964 herbeizuführen geholfen. Sie zog erst zögernd, dann immer nachdrücklicher in meine neuen Bilder ein. Aber sie trat nicht unmittelbar auf, sondern eher verschlüsselt in Symbolen für Meer, Berge, Früchte, Fische usw., die mehr von Bildnotwendigkeiten als von Naturgegebenheiten bestimmt sind. Sie erscheinen auch immer in ihrer intakten, ursprünglichen Form, im Gegensatz zum Menschen, der zerlegt, in anderen Proportionen und anders zusammengesetzt erscheint.

 

Hier habe ich merkwürdigerweise - sicher nur unbewusst - einen Bruch in der bisher von mir verfochtenen durchgehenden Einheit des Abstraktionsgrades im Bild zugelassen, um den Gegensatz des nicht mehr intakten Menschen zur noch intakten Natur ablesbar zu machen. Ich habe mir hier eine gewaltige Freiheit herausgenommen. Das war 1966. Etwa 15 Jahre später sollte das weitere Folgerungen zeitigen.

 

Während eines zweiwöchigen Aufenthaltes in Florenz im Jahre 1963 erlebten Cornelia und ich ein merkwürdiges Schauspiel, das uns einigermaßen erschütterte. Wir bummelten ziellos durch die Straßen der

 Stadt. Ein Lastwagen versperrte den Bürgersteig. Er stand dicht an einer übermannshohen Mauer. Der Fahrer des Wagens stand hoch aufgerichtet in der Tür des Fahrerhäuschens und lenkte den Ladegreifer des Fahrzeuges über die Mauer. Der Greifer kam zurück, hatte eine lebensgroße Gipsplastik zwischen den Zähnen, drehte bis zur Ladefläche und ließ seine Beute aus eineinhalb Metern Höhe fallen. Wir sahen noch vier- bis fünfmal Plastiken verschiedener Größe erscheinen und zerschellen, bis wir weitergingen. Der Laderaum war dann fast voll. Wir vermuteten, dass hier das Lebenswerk eines verstorbenen Bildhauers für alle Ewigkeit zertrümmert worden war.

 

Dass ich in meinen Bildern die klassische Einheitsforderung schon 1965 durchbrochen hatte, indem ich Gliederknoten in einem anderen Abstraktionsgrad darstellte als die Umgebung (die Landschaft, die Tiere, Pflanzen und Bäume), habe ich schon weiter oben dargelegt. Auch in den neuesten Collagen von 1973 war ich wieder einen Schritt in diese Richtung gegangen, indem jetzt der Gliederknoten aus weißen und schwarzen Gliedmaßen zusammengesetzt war, sich also in zwei verschiedenen Abstraktionsgraden bewegte. Und „Die Wegelagerer“ bekräftigten dies noch einmal, genauso die nachfolgenden Bilder der Jahre 1979 und 1980.

 

1979 tauchte noch ein zweites Bild auf, das mich beunruhigte: "Der kranke Maler" (Abb. 15). In ihm erschien der menschliche Kopf wieder, der seit 1967 aus meinen Bildern verschwunden war. Ich konnte mich zunächst mit diesem Bild nicht befreunden. Trotzdem hing es 1980 in meiner Ausstellung beim Förderkreis im Haus am Lützowplatz zusammen mit den "Wegelagerern" und den entsprechenden Folgebildern.

 

Bei der aus dem Stegreif gehaltenen Eröffnungsrede kam Eberhard Roters im Zusammenhang mit den weißen und den nunmehr aufgetauchten schwarzen Gliedmaßen auf die Zweipoligkeit des menschlichen Lebens und der Welt und auch auf den römischen Gott Janus zu sprechen. Die dadurch in mir hervorgerufenen Vorstellungen von dem doppelgesichtigen Januskopf brachten mich auf die Vermutung, dass dieser Zweifachkopf von meinen Gliederknotenbildern ohne Widerspruch angenommen werden könnte, weil er wie sie sein Dasein einer anaturalistischen Vorstellung verdankt. Ich arbeitete dann 1980 ausschließlich an Janusbildern. Das eine Gesicht war in Weiß gehalten, das andere enthielt viel Schwarz. Auch Cornelia begann, ein Janustriptychon in diesem Jahr zu weben.

 

Im Frühjahr 1981 kam Bewegung in die Janusköpfe, sie lösten sich von den bekannten Vorbildern, und ihre Gesichter vermehrten sich. Schließlich entwickelte sich ein Gebilde aus Köpfen und Gesichtern, das man Kopfkonglomerat, Köpfeknoten, Köpfeknolle oder ähnlich benennen könnte (Abb. 16).

 

Ich vermutete, dass nun ein Weg vor mir lag, der mich aus der langen Reihe meiner Bilder mit dem kopflosen Gliederknoten heraus zu etwas Neuem führen würde, vielleicht zu einer differenzierteren Aussage über den Menschen, vielleicht zu einer Art Personifizierung oder wenigstens zu einer Typisierung oder zu etwas, was man eben nur malen und weder benennen noch beschreiben kann. Ich spürte einen neuen Impuls, ich war in Aufbruchstimmung. Das Ziel lag noch im Unbekannten.

 

Instinktiv und triebhaft versuchte ich, Kopfhäufungen zu zeichnen und zu malen, spürte, dass ich zu einer Aussage über meine Zeitgenossen kommen könnte, malte in meiner Begeisterung sogar ein kleines Zeitgenossentriptychon.

 

Bei diesen Arbeiten tauchten neue Gedanken, besser gesagt: Vorstellungen auf, wie ich die Vermischung verschiedener Abstraktionsgrade in meinen Bildern noch weiter als bisher treiben könnte. Mir schwebte vor, verschiedene Gestaltungsarten und Stilrichtungen, die man ja alle als verschiedene Abstraktionsgrade bezeichnen kann, in einem Bilde zu vereinigen. Realistische, tachistische, impressionistische, expressionistische, kubistische, vielleicht auch kitschige, gebrauchsgraphische und beliebig andere Elemente müssten sich in einem Bild verwenden lassen, wobei ich hoffte, dass die Quantität der Dissonanzen zwischen den gehäuften künstlerischen Ausdrucksmöglichkeiten zu einer neuen Qualität der Einheit führen würde.

 

Die Deutung meiner Bilder scheint gar nicht so schwer zu sein. Ein Bekannter sagte auf die Frage eines anderen, was denn meine Bilder bedeuteten, das sei ganz einfach, man brauche nur genau hinzusehen. Der Mensch sei auseinander genommen und anders wieder zusammengesetzt, er stimme in den Proportionen nicht mehr und der Kopf fehle ganz. Das müsse ja dann mit der Meinung des Malers über die Menschheit insgesamt etwas zu tun haben.

 

Ein anderer sagte etwas ganz anderes. Er wunderte sich, dass einige meine Bilder nicht mögen. Und indem er auf die sinnliche Wirkung der prallen Gliedmaßen und Früchte hinwies, meinte er, er habe Lust, sich mit seinem nackten Hintern mitten in diese Bilder hineinzusetzen. Dieser hatte also eine andere Seite meiner Bilder als wesentlich empfunden.

 

Und einer meiner jugoslawischen Freunde, der mich jedes Jahr ein- bis zweimal besuchte, um meine Bilder - auch in ihrer Entstehung - zu sehen, sagte eines Tages etwas verlegen, er glaube jetzt zu wissen, was ich male: Es sei der Irrsinn der Welt.

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