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Studium

Angesichts meiner hochgeschraubten Erwartungen ließen die Enttäuschungen in Breslau nicht lange auf sich warten. Mein erstes Semester musste ich in der Vorklasse bei Paul Dobers absolvieren. Ich habe sehr viel von Dobers gelernt. Er war der einzige Lehrer meiner Studienzeit, der sich viel Zeit für jeden seiner Schüler nahm. Er hatte eine großartige Fähigkeit, sich in jede Schülerarbeit zu vertiefen. Ich hatte das Gefühl, dass er fast jeden Strich beim Betrachten nachvollzog. Uns schien, dass er sich auf eine naive, unvoreingenommene Art in jedes Gegenüber versenken konnte. Er hielt dies auch für eine unverzichtbare Voraussetzung künstlerischer Lehrtätigkeit. “Wenn man ein Kamel zeichnen will, muss man eigentlich selbst ein Kamel werden.” Solche und ähnliche Aussprüche, die sehr naiv waren und sich sehr komisch anhörten, konnte Dobers mit tiefem Ernst und großer Überzeugungskraft machen. Sie prägten sich gut ein, gerade weil darüber gewitzelt wurde. Wir spürten den Ernst dahinter. Wir zeichneten in dieser Vorklasse mit Bleistiften aller Härtegrade Materialstillleben, die wir vor uns stehen hatten: ein Brettchen, auf das verschiedene Materialstückchen montiert waren, die wir in zwei großen Kisten im Atelier vorfanden, als da sind: Blech, Draht, Wolle, Wollstoff, Leinen, Samt, Holz, Papier, Watte, Kunststoff, Steine, Blätter, Glas, Federn, Horn, Nägel, Metallspäne usw. Wir lernten die Ausdrucksmöglichkeiten der Härtegrade des Graphits zu erforschen und anzuwenden. Neigungsmäßig fühlte ich mich allmählich kaum noch zu diesen Studien hingezogen. Viel lieber fuhr ich in die Umgebung Breslaus mit dem Fahrrad, um in den Dörfern und in der Landschaft zu malen und zu zeichnen. Auch diese freien Arbeiten wurden von Dobers bereitwillig und intensiv besprochen. Das war für mich sehr anregend. Ich hatte bis zu diesem Zeitpunkt keinen Mentor gehabt.

Ich fand die Arbeit an den Materialstillleben nicht uninteressant. Vor allem merkte ich bald, dass jedes Werkzeug eigene, aber auch beschränkte Ausdrucksmöglichkeiten besitzt, auch dass durch diese obligatorische Arbeit Hand und Auge sensibilisiert wurden. Dass man durch solche Arbeiten aber auch von dem hohen Ross, auf dem man als junger Mensch naturgemäß sitzt, heruntergeholt wurde, habe ich erst später gemerkt. Allerdings zweifle ich noch heute daran, ob das für jeden Studenten gut und richtig war. Manchmal fragten wir uns, ob unsere Arbeit noch etwas mit Kunst zu tun habe oder ob wir in irgendeiner abgelegenen Ecke des Kunstbetriebes nach Kniffen suchten, um unseren Bleistiften eine möglichst zeit- und Mühesparende Methode abzuluchsen für eine noch nicht gefundene Materialdarstellung.

Sehr viel trockener ging es in der anderen Vorklasse zu, in der man das zweite Probesemester zu absolvieren hatte, in der Vorklasse von Professor Scheinert. Dort wurden Stillleben aus kleinen Gegenständen, z.B. Streichholzschachteln, Mokkatässchen, kleine Kakteen usw., unter peinlicher Beibehaltung des Augenpunktes mit ab- bzw. anschwellender Linie genau, auf den halben Millimeter genau, gezeichnet. Der vorderste Gegenstand musste natürliche Größe haben. Die Korrektur wurde etwa so vorgenommen: Wenn die obere Ellipse des vorderen Kakteentöpfchens richtig ist, muss die untere noch um einen Millimeter in der senkrechten Achse zusammengedrückt werden. Die vordere Kante der Streichholzschachtel muß noch einen halben Millimeter höher sein usw. Lediglich die optische Genauigkeit war dort oberstes Gesetz, das Endprodukt musste peinlich sauber aussehen. Viel Radiergummi und sehr gutes Zeichenpapier wurden verbraucht. Ich gebe zu, dass ich mit Grausen daran dachte, dass ich das im zweiten Semester über mich ergehen lassen musste.

An der Breslauer Akademie war es üblich, dass bei Semesterschluss jeder Student, gleichgültig welchen Alters, seine Arbeiten des verflossenen Semesters dem Professorenkollegium vorlegen musste. Der Pedell gab Tag und Stunde bekannt, zu denen die einzelnen Klassen vor dem Schriftraum aufmarschieren mussten. Im Schriftraum saßen die Professoren unter Vorsitz von Oskar Moll auf Tischen und Stühlen. Jeweils ein Student (alphabetische Reihenfolge) ging mit seiner Mappe nach Aufruf durch den Pedell hinein, legte die Mappe auf den Tisch vor den Direktor, öffnete sie und verließ den Raum. Nach einiger Zeit wurde er wieder hineingerufen. Moll gab dann eine kurze Zusammenfassung der Beurteilung, die darin gipfelte, dass der Student entweder weiterstudieren konnte oder dass ihm ein weiteres Probesemester gestattet wurde oder dass er aufgefordert wurde, die Akademie wieder zu verlassen. Im ersten Fall konnte der Student sich entscheiden, bei welchem Lehrer er im kommenden Semester studieren wollte. Zuletzt konnte der Student die über die Tische verstreuten Arbeiten in die Mappe zurückklauben und hinausgehen. Die Prozedur verlief durchaus nicht zimperlich. Besonders die Mädchen litten darunter und kamen manchmal weinend mit ihrer Mappe heraus.

Bei diesem Vorgang bekam ich zum ersten Mal alle damals schon sehr bekannten Maler der Akademie zu Gesicht: Oskar Moll, Otto Müller, Johannes Molzahn, Alexander Kanoldt, Carlo Mense, Paul Holz, Oskar Schlemmer und die Bildhauer Bednorz und van Gosen. Als ich nach Durchsicht der Mappe wieder hineingerufen wurde, hörte ich gespannt das Urteil: Man sei zufrieden mit mir, ich hätte viel gearbeitet, man wolle mir das zweite Probesemester in der Klasse Scheinert erlassen, wenn ich die dort geforderten Arbeiten in den Semesterferien anfertigte, und im kommenden Semester möchte er, Oskar Moll, mich in seiner Klasse haben.

Von meinem Lehrer Moll, bei dem ich zwei Semester blieb, war ich bald enttäuscht. Ich fühlte mich verschaukelt. Ich hatte den Lehrer, den ich mir wünschte, aber er lehrte nicht oder nicht mehr. In zwei Semestern habe ich ihn fünf- oder sechsmal im Atelier gesehen. Er sagte nichts zu meinen Arbeiten außer: “Sehr schön, machen Sie so weiter.” Kein Gespräch, kein praktischer Rat. Ich war wieder allein. Immerhin hatte ich meine Kommilitonen. Später verstand ich die Schweigsamkeit Molls. Die ersten nationalsozialistischen Studenten waren aufgetaucht, bildeten eine Aktionsgruppe und versuchten, überall Stunk zu machen. Moll hatte als Direktor und Jude wohl am meisten darunter zu leiden und war vorsichtig geworden.

Die Werkstätten der Akademie übten eine starke Faszination auf mich aus. Am Ende des dritten Semesters entschloss ich mich, in den Werkstätten für Holz, Metall und Papier und in der Weberei zu arbeiten. Mein alter Basteltrieb war wieder erwacht. Zu den Werkstattleitern hatte ich sofort ein gutes Verhältnis. Ich habe in diesem einen Semester durch Selbsttun und Zusehen viele handwerkliche Fähigkeiten erworben, die mir im Leben sehr geholfen haben. Holz-, Papier- und Papparbeiten waren mir schon aus der Pennälerzeit sehr vertraut. Die Metallarbeit und die Weberei waren neue Gebiete für mich. Jo Vinecky, ein Tscheche, war den Werkstattleitern als Formmeister übergeordnet und war für die Formgebung der in den Werkstätten entstehenden Gegenstände verantwortlich bzw. zuständig. Zu ihm und seiner Frau Li Vinecky, die die Weberei leitete, ließ sich ein freundschaftliches Verhältnis an. Ich habe von diesen beiden vieles über das Bauhaus und dessen Ideen erfahren. Sie waren mit Oskar Moll und Otto Müller befreundet und kannten auch einige Bauhausmeister persönlich. Auch später in Berlin hatte ich noch Kontakt mit diesen beiden interessanten Menschen. 1935 fand ich ihre Wohnung eines Tages leer vor. Ich habe nie erfahren, was mit ihnen geschehen ist.

Am Ende meines vierten Studiensemesters - es war das Wintersemester 1931/32 - wurde durch eine Notverordnung unter Reichskanzler Brüning die Breslauer Akademie geschlossen. Wo sollte ich weiterstudieren? Da ich mich für das Kunsterzieherexamen entschieden hatte, war es das vorteilhafteste, an die Staatliche Kunstschule Berlin-Schöneberg zu gehen, weil diese das Preußische Zentralinstitut für Kunsterziehung und der Sitz des Künstlerischen Prüfungsamtes für ganz Preußen war und auch ein Werklehrerseminar besaß.

Dass ich mich dort in das Atelier von Georg Tappert (Worpswede, Novembergruppe) einschreiben ließ, ist auf meinen Studienfreund Hans Berntsch zurückzuführen. Mia May, Tappertschülerin und Textildesignerin, die mein Freund als die einzige künstlerische Persönlichkeit seines Heimatortes gut kannte, hatte ihm so viel Interessantes über Tappert erzählt, dass unser Entschluss schnell feststand. Und ich habe dann bei Tappert auch alles gefunden, was ich bei Oskar Moll vermisst hatte.

Die künstlerische Arbeit der Studenten interessierte ihn lebhaft, aber er tastete die darin enthaltene persönliche Auffassung nicht an, im Gegenteil, er tat alles, um sie zu fördern.
Seine Korrekturen konnten meistens nicht als Einzelkorrekturen verstanden werden, sondern als Belehrung allgemeiner Natur. Aber auch das ist nicht zutreffend. Eher ist das Wort Lehre richtig. Tappert benutzte die einzelne Schülerarbeit dazu, über ein allgemeines Problem der Kunst oder der Malerei zu sprechen wie Komposition, Verformung, Abstraktion, Einheitlichkeit des künstlerischen Ausdrucksmittels, über Valeurs, Tonigkeit, Stufung, Modellierung, Modulierung usw. usw. Dadurch fühlte sich jeder anwesende Schüler angesprochen. Tappert sah auch manchmal nur kurz auf eine Arbeit und sagte nichts. Das - die schon länger bei Tappert arbeiteten, verrieten es uns - bedeutete Anerkennung: Nicht stören, hier malt einer!

Da Tappert viele Studenten hatte - im Sommersemester 1932 waren es über dreißig -, hatte der einzelne Student verständlicherweise nur wenig Kontakt zu ihm. Ich wunderte mich darüber, dass die Studenten nie in das Atelier des Meisters hineinkamen, dass man an der Tür sehr kurz abgefertigt wurde, wenn man ihn schon einmal störte. Aber immer erschien er in der Tür mit Riesenpalette und Zigarillo und einem ganzen Bouquet von Pinseln. Er arbeitete also stets. Dass seine politische Wachheit ihn schon damals vorsichtig machte und er fürchten musste, dass sich unter seine Studenten auch der eine oder andere Nazi mischen konnte, wurde uns bald vor Augen geführt. Und als ich nach zwei Semestern Werkstudium und nach bestandenem Werklehrerexamen im Oktober 1933 mein für ein Jahr unterbrochenes Malstudium wieder aufnahm, war Tappert bereits von den Nazis die Hochschultätigkeit untersagt worden, was aber widerrufen wurde.

Während des kurzen Sommersemesters 1932 hatte ich kein einziges persönliches Gespräch mit Tappert führen können, auch hatte ich nie ein Bild von ihm zu sehen bekommen. Keine persönliche Beziehung zu ihm hatte sich anbahnen lassen - so meinte ich. 1948, 16 Jahre später, wurde ich von ihm eines besseren belehrt. Er hatte mich sehr wohl in Erinnerung behalten.

Das Sommersemester 1932 und die darauf folgenden Semesterferien verbrachte der an der Kunstschule Schöneberg lehrende Malprofessor Curt Lahs mit seinen Studenten auf Istrien in Italien in der kleinen Fischerstadt Pirano (jetzt Piran, jugoslawisch). Am Ende dieses Semesters, meines fünften, ergab sich für mich eine Gelegenheit, mit zehn anderen Studenten ebenfalls dorthin zu reisen. Dieses Vierteljahr in Pirano wurde für mich sehr entscheidend. Die Intensität, die ich dort beim Malen und Zeichnen entwickeln konnte, überstieg meine bisherigen Vorstellungen. Und Curt Lahs war ein sehr einfühlsamer Lehrer, dem ich viel verdanke. Damals kam mir zum Bewusstsein, dass ich wahrscheinlich mein Leben lang nicht mehr von der Malerei wegkommen würde.

Curt Lahs stellte für uns Studenten einen Einzelfall dar, weil im derzeitigen Professorenkollegium noch alles mit Vorbehalt betrachtet wurde, was über den Expressionismus hinausging, der durch Georg Tappert, Willi Jäckel und Rudolf Großmann würdig vertreten und daher auch respektiert wurde.

Unter den damals außerordentlich lebhaften und debattierfreudigen Studenten ging das Gerücht, Lahs sei ein Feind alles Gegenständlichen und dulde nur das Gegenstandslose. Wie unbegründet dieses Gerücht war, stellte sich für mich sehr schnell heraus. Seine erste Korrektur zeigte mir schon, wie sehr er mit der sichtbaren Welt vertraut, wie sehr seine Gesamtpersönlichkeit von ihr durchdrungen war und wie selbstverständlich es ihm war, dass der Künstler seine Impulse, vielleicht sogar seine gesamte Potenz aus dem Erlebnis der sinnlich wahrnehmbaren Natur beziehe. Andererseits hörte ich zum ersten Mal in meinem Studium aus dem Munde eines Professors, dass auch das freie Spiel mit den vom Gegenstand losgelösten Formen und Farben von den Sinneserlebnissen des Malers die Kraft zur Gestaltung erhalte und nicht allein vom Verstande. Diese damals bestimmt nicht selbstverständliche, von ihm bis in seine letzten Lebensjahre beibehaltene Einstellung zur künstlerischen Gestaltung hat aus ihm eine Künstlerpersönlichkeit werden lassen, die außerordentlich produktiv, aber auch gleichzeitig als Lehrer hervorragend geeignet war.

Im sechsten und siebenten Semester stürzte ich mich in das Studium des Faches Werkerziehung und schloss es durch die Werklehrerprüfung ab. Das Werklehrerstudium brachte mir unter anderem auch wenigstens ein Teilerlebnis des Berufes, den ich mir in meiner Kindheit gewünscht hatte. Endlich konnte ich mich, so viel ich wollte, in der Holzarbeit mit richtigen Werkzeugen austoben. Ich bin wie ein Handwerker täglich um sieben Uhr morgens in den Werkstätten gewesen und habe oft bis zum Abend durchgearbeitet. Dabei machte mir die Arbeit in den Werkstätten für Metall und Papier ebenfalls viel Freude. Die Metallwerkstatt stand unter der Leitung von Wilhelm Wagenfeld, der damals als Designer schon viel von sich reden machte. Die Papierwerkstatt leitete Harro Siegel, der zu dieser Zeit ein bekannter Puppenspieler (Marionetten) war. Er hatte auch in der Kunstschule eine Werkstatt für Marionettenbau und -spiel eingerichtet. Es war für mich selbstverständlich, dass ich auch bei ihm arbeitete. Alle diese handwerklichen Disziplinen machten mir wenig Schwierigkeiten. Ich fühlte mich nach diesen beiden Semestern durch viele neue Fähigkeiten bereichert. Dieses Jahr war für mich ein glückliches Jahr, auch in ganz anderer Beziehung.

Nach der Werklehrerprüfung, bei Beginn meines achten Semesters, wollte ich mich wieder vermehrt der Malerei widmen. Ich fand eine vollständig neue Situation vor. Die meisten künstlerischen Lehrer waren von den Nazis verjagt worden. Der Januar 1933 lag schon fast ein dreiviertel Jahr zurück. Der Direktor Heinrich Kamps, Willi Jäckel und Curt Lahs waren zu „entarteten Künstlern“ erklärt worden, hatten Malverbot erhalten und ihre Lehrtätigkeit aufgeben müssen. Auch unseren hochgeschätzten Kunsthistoriker Dr. Oskar Fischel hatte man, wegen seiner jüdischen Abstammung, entfernt. Georg Tappert hatte zwar im Sommer 1933 seine Lehrtätigkeit wieder aufnehmen dürfen, aber ich habe nichts davon erfahren, wusste auch nicht, dass er mit seinen Studenten in der Fränkischen Schweiz arbeitete. Auch habe ich Tappert nach 1933 nicht mehr wieder gesehen. 1937 wurde er schließlich entlassen und erhielt Ausstellungs- und Malverbot, seine Bilder wurden aus den Museen entfernt.

Noch anderes war in dieser Zeit passiert. Ich war damals erster Vorsitzender der Studentenschaft der Kunstschule Schöneberg. Eines Tages - bis dahin (etwa Februar 1933) hatten wir zwar schon gestiefelte Studenten, die sehr unter unserem Spott zu leiden hatten, sie verhielten sich aber zurückhaltend - eines Tages also wurde ich auf in der Kunstschule angeklebten Plakaten als Marxist bezeichnet, der die Studentenschaft nicht länger „führen“ dürfe. Die Plakate wurden von zwei Kommilitonen mit Hakenkreuzbinden am Arm bewacht.

Einige Tage später - ich arbeitete gerade in dem kleinen Zimmer, das für die wenige Büroarbeit des Studentenausschusses zur Verfügung stand - wurde die Tür zu diesem Raum von außen sperrangelweit aufgerissen, und vor mir standen etwa 20 Hakenkreuzbinden tragende Mitstudenten, ganz vorn mein Stellvertreter, der sich bis dahin nie als Nazi zu erkennen gegeben hatte. Dieser kam auf mich zu und sagte mit leiser Stimme, man fordere mich auf, den Vorsitz niederzulegen und die Schlüssel der nationalsozialistischen Studentenschaft auszuhändigen, und fügte noch leiser hinzu, er bitte mich, keinen Widerstand zu leisten, weil man entschlossen sei, dann Gewalt anzuwenden. Die Übermacht war überzeugend. Proteste waren sinnlos. Der Wechsel wurde schließlich vom Kultusminister sanktioniert, der sich sogar dazu herabließ, den bisherigen Vorstand zu empfangen.

Im gleichen Frühjahr überfiel ein SA-Sturm, an seiner Spitze der SA-Sturmführer Otto Andreas Schreiber, die Kunstschule Schöneberg. Schreiber war ein ehemaliger Student des Hauses, war inzwischen als Assessor im Schuldienst tätig, galt als eine große Begabung und hatte sogar einmal in der Berliner Galerie Ferdinand Möller zusammen mit einer Künstlergruppe ausgestellt, die sich der „Norden“ nannte. Während des Überfalls holten seine SA-Leute die Mitglieder  des Künstlerischen Prüfungsamtes aus der gerade stattfindenden Sitzung und stellten sie auf die Straße, darunter den Vorsitzenden des Künstlerischen Prüfungsamtes, Philipp Franck, den Direktor der Kunstschule Schöneberg, Heinrich Kamps, und meine Lehrer Tappert und Lahs, hissten eine Hakenkreuzfahne auf dem Dach, trieben die anwesenden Studenten zusammen, schlugen einige, die sich zur Wehr setzten, mit Gummiknüppeln, suchten sich jüdisch aussehende Studenten heraus, um sie in der Toilette zu untersuchen, ob sie beschnitten seien. Ein gütiges Geschick hat mich vor diesem makabren Erlebnis bewahrt, indem es mich kurz vor dem Überfall mit der U-Bahn zum Straußberger Platz fahren und Holz einkaufen ließ.

Im Herbst 1933 trat die gesamte männliche Studentenschaft der Kunstschule Schöneberg in die SA ein, d.h. die Vorsitzenden hatten sie, ohne jemanden zu fragen, „eingetreten“. Ich war entsetzt, dass ich nicht daran gedacht hatte, meinen Austritt aus dieser umgewandelten Studentenschaft zu erklären. Ich habe schließlich meinen Austritt aus der SA erklärt und, da dieser gerade gesperrt war, mich bis zur Aufhebung der Sperre beurlauben lassen. Tatsächlich bekam ich nach vielen Wochen ein Schreiben vom SA-Sturmbann, die Austrittssperre sei aufgehoben. Der Rest war eine Formalität. Alles ging verhältnismäßig einfach. Ich glaubte es beinahe selber nicht. Man sagte mir – wahrscheinlich wollte man mich dadurch umstimmen – ,
dass man mich aus den Büchern streichen würde, dass ich niemals würde behaupten bzw. nachweisen können, dass ich der SA angehört hätte. Man begriff natürlich nicht, welchen Gefallen man mir damit tat.

Ende 1933 hatte sich die Lage beruhigt. Wir bekamen zunächst einen kommissarischen Leiter und später Alexander Kanoldt als Direktor und die Maler Schrimpf, Rössing, Schorling als neue Malprofessoren. Mir waren sie alle verdächtig, weil ich annahm, dass sie alle Parteigenossen seien, auch ihre Kunst war mir verdächtig, weil die NSDAP alles, was ich bisher liebte und schätzte, zur „Entarteten Kunst“ erklärt hatte.

Welchen Lehrer sollte ich mir wählen? Tappert war in der Fränkischen Schweiz, Lahs war entlassen. Ich ging zu Konrad und Kardorff. Ich hatte ihn nur einige Male gesehen. Er war mir sympathisch, wenn er mit seinem grauen Mops durch das Kunstschulportal hereinkam, seinen Kamelhaarmantel im Vestibül auszog, ihn so unter den Arm klemmte, dass er auf dem Fußboden neben ihm herschleifte. Und immer begann in diesem Moment das gleiche Spiel:
Der Mops verbiss sich mit wütendem Gekläff und heftigem Knurren in ein Mantelende und  ließ sich von seinem großen, stattlichen Herrn, der dabei eine merkwürdige lässige, aber hoheitsvolle Würde zur Schau trug, in den ersten Stock hinauf und in den Korridor entlang schleifen.

Zu Kardoff gewann ich ein gutes Verhältnis. Auch zu seinem Privatatelier hatte ich Zugang und konnte mir in Ruhe seine Bilder, auch in ihrer Entstehung, ansehen. Es entwickelte sich fast eine Vater-Sohn-Beziehung. Zum ersten Mal hatte ich einen Lehrer, mit dem ich meine geheimsten Gedanken, z.B. über die Nazis, austauschen und den ich um Rat fragen konnte. Er war mit Rudolf Großmann befreundet, dem ich oft in Kardorffs Atelier begegnete. Kardoff und er enthielten sich mir gegenüber nicht ihres bissigen Sarkasmus, mit dem sie sich über das neue Regime unterhielten. Sie waren auch die letzten Professoren, die sich in den Prüfungen für die noch vorhandenen jüdischen Kommilitonen einsetzten. Kardoff war dann auch der einzige beamtete Hochschullehrer, der den Mut hatte, Liebermann 1935 auf seinem letzten Weg zu begleiten. Er wurde 1940 vorzeitig pensioniert. Seine Gegnerschaft zum Naziregime war offensichtlich.

In seiner Malklasse war Kardorff natürlich vorsichtig. Soweit ich das beurteilen konnte, befand sich kein Hakenkreuzträger unter seinen Schülern. Andererseits waren sie sämtlich politisch uninteressiert, sie waren sich aber einig in ihrem Widerwillen gegen den Nationalsozialismus. Die politische Uninteressiertheit vieler Studenten hatte sich bei der entscheidenden Wahl im Januar 1933 gezeigt. Viele, sehr viele, waren nicht zur Wahl gegangen. Dass ich wählen ging, war ihnen unverständlich.

Künstlerisch habe ich von Kardorff viel gelernt. Seine große Erfahrung im Portraitmalen und im Aktzeichnen befähigte ihn zu einem ausgezeichneten Lehrer. Beim Aktzeichnen ließ er sich ein Transparentpapier über die Studentenzeichnung legen und zeichnete über die durchscheinende Zeichnung in atemberaubender Geschwindigkeit mit einfachster Linie in etwa ein bis zwei Minuten einen Akt, der uns deutlicher als alle Worte zeigte, was wir übersehen hatten. Von ihm erfuhr ich auch vieles über Eigenschaften der Ölfarbe und darüber, welche Farben im Malkasten fürs Portraitmalen unentbehrlich sind.

Im Sommer 1934, am Ende meines neunten Semesters legte ich die Prüfung für das Künstlerische Lehramt an höheren Schulen ab. Die Leistungen, die mir abverlangt wurden, waren bescheiden. In diesem Zusammenhang denke ich mit großer Hochachtung an die Leistungen, die die Studenten in späterer Zeit, als ich Leiter des Künstlerischen Prüfungsamtes war (1958-1969), nachweisen mussten. Nicht nur das künstlerische Niveau, sondern auch die Breite der wissenschaftlichen und pädagogischen Ausbildung waren gegenüber meiner eigenen Studienzeit um ein Vielfaches gestiegen.

 

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